Die Schattenseite der Selbstorganisation – und was Führung heute wirklich bedeutet
Alle sind verantwortlich – und niemand entscheidet. Willkommen im Chaos der modernen Organisation.
Selbstorganisation ist in. Agil, demokratisch, flach, modern. Kaum eine Organisation, die nicht irgendwie in Richtung mehr Beteiligung, mehr Eigenverantwortung, weniger Hierarchie denkt. Klingt gut. Ist auch gut – meistens.
Aber: Selbstorganisation ist kein Selbstläufer. Und sie ist auch kein Allheilmittel. Wenn sie falsch eingeführt wird, wird sie zum perfekten Nährboden für Chaos, Konflikte und stille Resignation.
Der Mythos: „Selbstorganisation braucht keine Führung“
Ein Trugschluss, der sich hartnäckig hält. Als würde die Abwesenheit von Führung automatisch zu Freiheit führen. Was aber oft passiert: Die formale Hierarchie wird abgeschafft – aber nichts Neues tritt an ihre Stelle. Entscheidungen versanden, Verantwortung wird diffus, Konflikte werden nicht geklärt. Alle sind irgendwie verantwortlich – aber niemand fühlt sich zuständig.
Das Ergebnis: Frust. Müdigkeit. Zynismus. Und am Ende doch wieder: informelle Macht, verdeckte Steuerung, oder die heimliche Sehnsucht nach „einer, der mal durchgreift“.
Selbstorganisation ist Arbeit – und zwar richtig viel
Damit Selbstorganisation funktioniert, braucht sie mehr als nur einen neuen Namen für Teams und ein Kanban-Board an der Wand. Sie braucht:
Klar definierte Rollen und Entscheidungsräume
Transparente Prozesse für Kommunikation, Feedback, Konfliktklärung
Verantwortung, die nicht einfach „geteilt“, sondern bewusst verteilt wird
Gemeinsame Regeln, wie Entscheidungen getroffen werden
Und vor allem: Führung.
Führung in selbstorganisierten Systemen
Führung ist nicht weg. Sie ist nur anders verteilt. Und sie braucht andere Fähigkeiten:
Kontext gestalten statt kontrollieren: Klare Rahmen setzen, statt alles im Detail zu steuern
Sinn stiften: Wofür tun wir das hier überhaupt?
Spannungen bearbeiten: Nicht Harmonie verwalten, sondern echte Konflikte aushalten und klären
Entscheidungsfähigkeit sichern: Wer trifft wann wie welche Entscheidungen – und warum?
Führung in der Selbstorganisation bedeutet nicht, dass alle alles entscheiden. Sondern dass jede*r weiß, in welchem Raum sie oder er entscheidet – und wann man lieber gemeinsam hinsehen muss.
Was häufig schiefläuft
Hier ein paar klassische Stolpersteine, die ich in Organisationen immer wieder sehe:
Der Chef „zieht sich raus“ – und keiner weiß, wie’s weitergeht.
Teams haben plötzlich Verantwortung – aber keine Entscheidungsgrundlagen.
Alte Konflikte werden unter dem Deckmantel der Gleichwertigkeit ausgesessen.
Menschen übernehmen Aufgaben – aber nicht, weil sie wollen, sondern weil sonst niemand da ist.
Was heute Führung wirklich bedeutet
Egal ob klassisch oder selbstorganisiert – Führung bedeutet heute vor allem:
Orientierung geben
Sicherheit ermöglichen, gerade in unsicheren Kontexten
Räume schaffen für Verantwortung, aber auch für Konflikt und Aushandlung
Entscheidungen ermöglichen, nicht verhindern
Führung ist keine Position, sondern eine Praxis. Und Organisationen, die das verstehen, können die Kraft der Selbstorganisation tatsächlich nutzen – ohne ins Chaos zu kippen.
Fazit: Selbstorganisation funktioniert. Aber nur, wenn Führung nicht verschwindet, sondern sich transformiert. Denn ohne Führung bleibt alles irgendwie möglich – aber nichts verbindlich. Und das ist der Anfang vom Ende.